ANÖ Beitrag

19. Oktober 2019

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Lieferengpässe: Hunderte Medikamente in Österreich nicht erhältlich

Bei den nicht lieferbaren Produkten handelt es sich laut Apothekerkammer meist um etablierte Massenarzneimittel

Auch bei immunsupprimierten Medikamenten, die die Abstoßung von transplantierten Organen verhindern, ist es zu Lieferengpässen gekommen. Die ANÖ warnt die Patienten vorgeschriebene Medikamente nicht ohne Absprache mit dem Transplant- oder Fachzentrum zu ändern cBild: ANÖ/Archiv

(ANÖ/APA/OTS)/ES) Wien – In Österreich sind derzeit Hunderte Arzneimittel nicht verfügbar. Schuldzuweisungen zwischen Pharmaindustrie, Großhandel und Apotheken stehen auf der Tagesordnung. Die Apothekerschaft wünscht umfassende Gegenmaßnahmen. Jeder Marktteilnehmer sollte seinen Teil beitragen, stellten Apothekerkammerpräsidentin Ulrike Mursch-Edlmayr und Vizepräsident Christian Wurstbauer jetzt gegenüber der APA fest.

Eine bessere Kommunikation zwischen Industrie, Großhandel, Apotheken und Ärzten soll die Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten verbessern.

„Ich habe mir die Daten von einem der drei großen Pharmagroßhändler angesehen. Am 30. August waren 908 Arzneimittel nicht lieferbar. Am 3. Oktober waren es noch immer 807. Davon waren 754 rezeptpflichtige Arzneimittel. Von den 908 Ende August nicht verfügbaren Arzneimitteln waren Anfang Oktober 556 weiterhin nicht verfügbar. Das heißt, dass ist nicht kurzfristig, das geht über Monate“, sagte Apothekerkammer-Vizepräsident Christian Wurstbauer.

In der Öffentlichkeit ist immer wieder die Rede davon, dass es sich bei den fehlenden Arzneimitteln häufig um hoch spezielle, zum Teil kompliziert zu produzierende High-Tech-Medikamente handle. Wurstbauer hat eine andere Situation erhoben: „Dies betrifft zumeist Massenarzneimittel. Und das löst bei den Patienten Verunsicherung aus. Bei ihm entsteht der Eindruck, dass der Arzt zu dumm ist, um ein erhältliches Arzneimittel zu verschreiben oder der Apotheker unfähig, es zu besorgen.“

Engpass bei bewährten Arzneimitteln

Die Zustände sind wohl erstaunlich für Österreich als eines der reichsten Länder der Welt und mit einem hoch entwickelten Gesundheitswesen. Ein Blick auf die buchstäblich „elendslange“ Liste der medikamentösen Unerhältlichkeit in Österreich zeigt: Es handelt sich zum allergrößten Teil um Produkte aus synthetischer Produktion, also nicht um High-Biotech-Arzneimittel, die nur an einer oder zwei Standorten hergestellt werden: Wirksame Uralt-Blutdruckmedikamente (etwa ein Betablocker), ebenfalls lang bewährte Cholesterinsenker, Cortisonsalben, Schmerzmittel etc.

Die Pharmaindustrie hat in diesem Zusammenhang auf den Export von für Österreich gedachten Arzneimitteln in Länder mit höheren Preisen durch Apotheker mit Großhandelskonzession bzw. Pharmagroßhändler verwiesen. Der neue Präsident des Verbandes der österreichischen Pharmaindustrie (Pharmig), Philipp von Lattorff, sprach gegenüber der APA von „Körbergeld“, das sich Apotheker hier zum Nachteil der Arzneimittelversorgung in Österreich sicherten. „Die Situation ist für alle Beteiligten, für die Industrie, den Großhandel, Apotheker, Ärzte und Patienten unangenehm“, betonte Apothekerkammerpräsidentin Ulrike Mursch-Edlmayr. Es sei wohl kein Wunder, dass die einzelnen Marktteilnehmer versuchten, sich gegenseitig den sprichwörtlichen „Schwarzen Peter“ zuzuschieben.

Brexit, Lieferengpässe und Rückrufe

„In der Liste der nicht lieferbaren Medikamente ist nichts dabei, was aus Preisgründen exportiert würde“, sagte Wurstbauer und widersprach damit der Einschätzung der Pharmaindustrie. Der Verkauf von Arzneimitteln aus Österreich nach Deutschland oder in andere EU-Staaten mit höheren Preisen zahle sich eben nur bei entsprechenden Preisdifferenzen aus. Das zeige die Aufstellung aber nicht. „Der Verkauf von Arzneimitteln in andere EU-Staaten ist außerdem kein „Export. Das wäre nur der Verkauf in Drittländer, auf dem Binnenmarkt ist das normal, nichts Kriminelles oder Mafiöses“, ergänzt der Experte.

Vor allem die entstandene Unruhe unter den Patienten, die sich rundum beschwert haben, ließ Politik und Verwaltung aktiv werden. „Bei der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) wurden drei Arbeitskreise zur Arzneimittel-Versorgungssicherheit eingerichtet. Einer befasst sich mit dem Brexit, auf den Österreich gut vorbereitet ist, der zweite mit den Lieferengpässen (Großhandel, Apotheker, Kliniken) und der dritte mit der Standardisierung von Rückrufaktionen im Fall, dass Probleme in der Produktion von Arzneimitteln auftreten“, schilderte Ulrike Mursch-Edlmayr die Aktivitäten.

Diskutiert wird bei den Lieferengpässen auch die sogenannte Kontingentierung von Arzneimitteln durch die Pharmaindustrie. Hier gibt es aber zwei Kategorien. „Da existiert der Direktvertrieb von Arzneimitteln über Logistikunternehmen an die Apotheken („Direct to Pharmacy“; Anm.). Es geht um die um die stückweise Anlieferung von Arzneimitteln, meist hochpreisige Medikamente. Da übt die Pharmaindustrie die Kontrolle aus“, so Wurstbauer.

Gesetzliche Exportverbote

Schließlich gibt es noch rund 160 bis 170 Arzneimittel, die ebenfalls kontingentiert, aber durch einen eventuellen Export in ihrer Erhältlichkeit in Österreich „gefährdet“ sind. „Sie sind verfügbar. Es kann aber sein, dass der Patient darauf eventuell ein bis zwei Tage warten muss“, sagte Apothekerkammer-Vizepräsident Christian Wurstbauer.

Mit Arzneimitteln en gros handeln dürfen nur die Inhaber von entsprechenden Konzessionen. In Österreich haben neben den großen Fünf der Pharmagroßhändler (z.B. Phoenix, Herba, Kwizda etc.) etwa 50 Apotheker ebenfalls Großhandelskonzessionen. Hier gäbe es Einflussmöglichkeiten, betonte Apothekerkammerpräsidentin Ulrike Mursch-Edlmayr: „Die Ages als Aufsichtsbehörde könnte jederzeit bei den einzelnen Großhändlern Kontrollen machen und erheben, wohin Arzneimittel exportiert worden sind.“ Bei den direkt an die Apotheken stückweise ausgelieferten High-Tech-Medikamenten, vor allem aus der Biotechnologie-Produktion, hätte er aber noch nie Engpässe registriert, fügte Wurstbauer hinzu. Überhaupt seien 90 Prozent der akut auftretenden Probleme durch Zusammenarbeit von verschreibendem Arzt und Apotheke lösbar.

Der neue Pharmig-Präsident Philipp Lattorff hat in seiner ersten Stellungnahme gleich ein mögliches Gesetz gegen den Export von in ihrer Verfügbarkeit potenziell gefährdeten Arzneimitteln ins Spiel gebracht. Bei der Apothekerkammer hält man das für undurchführbar. „Da geht es um Hunderte Arzneimittel. Die Liste ändert sich ständig“, sagte der Kammer-Vizepräsident. Abgesehen davon seien Experten wegen der EU-Binnenmarktregeln skeptisch bezüglich der Umsetzbarkeit eines solchen Plans. Man mache sich gegenüber Ländern wie Deutschland eher lächerlich, wenn man gesetzliche Exportverbote für Medikamente per Gesetz vorsehe.

Was die Apothekerkammer wünscht

Die Standesvertreter der österreichischen Apothekerschaft würden viel eher ein umfassendes System mit mehreren Bestandteilen und Übernahme der Verantwortung durch jeden Marktteilnehmer vorschlagen:
•Verpflichtendes Meldesystem für die Pharmaindustrie bei auftauchenden Lieferproblemen (Vertriebseinschränkungsregister).
•Kommunikationsnetz zwischen Großhandel, Ärzten und Apothekern. Ulrike Mursch-Edlmayr: „Das kann auch ein Ampelsystem in der Software von Ärzten sein, wodurch sie informiert werden, was eventuell nicht erhältlich sein könnte.“
•Im Ernstfall sollen Apotheker, wenn der verschreibende Arzt nicht erreichbar ist, das verschriebene Medikament durch ein gleichwertiges ersetzen dürfen. Wurstbauer: „Wir wünschen uns definitiv keine Aut-idem-Regelung (generelle Austauschbarkeit vergleichbarer Arzneimittel, eventuell kombiniert mit bloßer Wirkstoffverschreibung; Anm.).“
•Gesundheitspolitik und Krankenkassen sollten sich das Preisniveau in Österreich bei den Arzneimitteln anschauen, um keine zu großen Preisunterschiede zwischen den vergleichbaren EU-Mitgliedsstaaten entstehen zu lasse

„Wenn man Versorgungssicherheit, höchste Qualität und Beratung will, muss man Gesundheitsdienstleister so bezahlen, dass es fair ist“, lautet das Fazit der Apothekerkammer.

Abseits der Brexit-Vorkehrungen geht es Apothekerkammerpräsidentin Ulrike Mursch-Edlmayr darum, bei einer sich realistisch abzeichnenden künftigen Regierungskoalition rechtzeitig auf die Anliegen ihres Standes hinzuweisen. „Wir brauchen ein Bekenntnis der Politik, die Arzneimittelversorgung durch die Apotheken flächendeckend in der bestehenden Form zu sichern.“

Lieferengpässe bei Medikamenten werden auch in Österreich häufiger

(ANÖ/APA). Eines der größten Probleme sei die ungeregelte Marktliberalisierung, sagt Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidentin der Österreichischen Apothekerkammer. Internationaler Pharmakonzerne vergeben in einzelnen Ländern je nach Markterwartung bestimmte Kontingente für ihre Medikamente. Durch eine unvorhergesehene erhöhte Nachfrage kann es zu Versorgungsproblemen kommen.

In einem reichen Land wie Österreich mit seinem solidarischen Sozialversicherungs- und Krankenkassensystem sollte die Arzneimittelversorgung eigentlich kein Problem sein. Doch es knirscht offenbar immer wieder im Getriebe. Das Problem von Lieferengpässen ist komplex und – je nach betroffenem Arzneimittel – auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen.

Einerseits geht es um die sogenannte Kontingentierung hoch innovativer und teurer Medikamente, zum Beispiel bestimmte Biotech-Arzneimittel. Auf der anderen Seite kommt es immer wieder zu Produktionsproblemen zunehmend weniger Wirkstoffproduzenten in anderen Weltregionen, zum Beispiel in China oder Indien.

Bei innovativen, in der Herstellung komplizierten Biotech-Präparaten kann es durch die sogenannte Kontingentierung zu Problemen kommen. Die österreichischen Niederlassungen internationaler Pharmakonzerne erhalten nach der Markterwartung vorausberechnete und vorbestellte Mengen. Um das Aufkaufen und den Export ins teurere EU-Ausland durch Pharmagroßhändler und offenbar auch durch Apotheker zu unterbinden, versorgen die Konzerne den Markt nicht über den Pharmagroßhandel, sondern über Pharmalogistik-Unternehmen. Anfangs bedeutete das für die Patienten zum Teil längere Vorlaufzeiten, bis das Medikament in der Apotheke nach Bestellung auch wirklich vorhanden war. „Das hat man in den Griff bekommen. Binnen einem Tag ist das bestellte Arzneimittel da“, sagt ein Apotheker gegenüber der APA.

Seit Monaten immer wieder Lieferausfälle

Österreichische Apotheken könnten sich bald außerstande sehen, diese Arzneimittel überhaupt zu bestellen. „Die Logistikunternehmen haben ein Zahlungsziel von wenigen Tagen. Wenn eine Packung zum Beispiel 10.000 Euro kostet, muss ich das vorfinanzieren. Die Krankenkasse zahlt erst nach einigen Wochen. Bei einem Rezept geht das. Aber kommen in einer Woche mehrere Patienten mit Rezepten auf solche Arzneimittel, ist das finanziell unmöglich“, erklärt der Apotheker. Normalerweise – bei Bezug via Pharmagroßhandel – übernimmt der Grossist die Zwischenfinanzierung, bis die Krankenkasse zahlt.

Die Pharmig als Verband der österreichischen Pharmaindustrie verwies darauf, dass bei rund 13.000 Pharmaprodukten eine Lieferfähigkeit von 99 Prozent gegeben sei. Doch ist ein wichtiges Medikament nicht verfügbar – wird das für die betroffenen Patienten, deren Ärzte und Apotheker zum Problem. „Von heute, 13.00 Uhr, bis um 17.26 Uhr habe ich drei Nachrichten über Lieferausfälle erhalten“, sagte vergangenes Jahr ein oberösterreichischer Krankenhausapotheker. Es handelte sich bei den plötzlich fehlenden Arzneimitteln um zwei wichtige Krebsmedikamente und ein auf Intensivstationen eingesetztes Antibiotikum.

Ein anderes Beispiel, wie ein Krankenhausapotheker vor wenigen Tagen schilderte: Ein Produzent ließ plötzlich zwei Stärken eines bei fast jeder Narkose verwendeten Beruhigungsmittels auf. Von einem Tag auf den anderen musste umdisponiert werden. Ein extrem wichtiges Arzneimittel für viele Patienten, ein Präparat mit niedermolekularem Heparin, sei seit Monaten immer wieder nicht lieferbar. Der Eigentümer einer öffentlichen Apotheke wiederum sagte: „Wir sind heute bei unserem Großhändler mit weit mehr als 200 Produkten vorgemerkt, die wir erhalten sollen, wenn sie wieder verfügbar sind.“ Eine Wiener Hausärztin sagte: „Seit einiger Zeit ist ein bei Patienten oft verwendetes und von den Krankenkassen bezahltes Venenmittel nicht verfügbar. Das macht die Patienten unruhig.“

Zunehmende Monopolisierung

Ein Teil der Problematik liegt in der zunehmenden Monopolisierung der Wirkstoffherstellung. „Wo es früher sieben Anbieter gab, sind es nur noch zwei. Die Lieferausfälle betreffen zumeist Medikamente, deren Herstellung sehr aufwendig ist und die einen sehr niedrigen Preis haben“, sagte vergangenes Jahr ein Experte der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages). Schon der Ausfall eines Produzenten durch technische Schwierigkeiten etc. könne dann zu einer extremen Verknappung der vorhandenen Mengen bei dem jeweils betroffenen Arzneimittel führen.

Die Politik muss der ungeregelten Marktliberalisierung im Gesundheitsbereich aktiv entgegentreten, auf nationaler Ebene ebenso wie EU-weit.“

„Engpässe bei der Versorgung mit Arzneimitteln sind nicht akzeptabel“, kritisierte die Präsidentin der Österreichischen Apothekerkammer, Ulrike Mursch-Edlmayr, nach dem Aufflammen der Diskussion über Probleme in der Arzneimittelversorgung. „Arzneimittelengpässe sind eine fatale Folge der scheinbar grenzenlosen globalen Liberalisierung. Die Politik muss der ungeregelten Marktliberalisierung im Gesundheitsbereich aktiv entgegentreten, auf nationaler Ebene ebenso wie EU-weit.“
Zu qualitätsbedingten Engpässen kann man sich auf der Website des Bundesamtes für Arzneimittelsicherheit im Gesundheitswesen informieren. – So sorgte die Kontamination von Blutdruckmitteln (bestimmte Sartane; Anm.) mit potenziell toxischen Substanzen aus chinesischer Produktion für international großes Aufsehen und Versorgungsproblemen.