ANÖ Beitrag

22. Mai 2018

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Mängel in der Schmerzmedizin

Festgelegte Behandlungspfade und Ausbau abgestufter Angebote sollen die Versorgung verbessern und Kosten senken

Wien (OTS) – Von den bis zu 1,8 Millionen Menschen in Österreich mit chronischen oder chronisch wiederkehrenden Schmerzen sind 350.000 bis 400.000 von der Schmerzkrankheit betroffen, bei ihnen hat sich der Schmerz als eigenständiges Krankheitsbild verselbstständigt. „Der Akutschmerz, der chronische Schmerz und die Schmerzkrankheit brauchen modere Behandlungsstrategien, und da hinkt Österreich noch immer nach“, sagt ÖÄK-Präsident Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres bei einem Pressegespräch anlässlich des 26. Kongresses der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG), der unter dem Motto „Schmerzmedizin trifft Alternsmedizin“ in Linz (24.-26. Mai) stattfinden wird. „2030 werden rund eine Million Menschen in Österreich über 75 Jahre alt sein. Das Altern bringt oftmals Krankheit, Leid und Schmerzen mit sich, der Schmerzmedizin wird also eine zunehmend wichtige Rolle zukommen. Das österreichische Gesundheitssystem muss sich auf diese Entwicklung einstellen und die schmerzmedizinische Versorgung deutlich aufwerten.“

Prof. Likar: Moderne, multimodale Schmerztherapie muss zum Versorgungsstandard werden

„Daher muss eine moderne, multimodale Schmerztherapie auch bei uns zum Versorgungsstandard werden. Von einer flächendeckenden, leitliniengerechten Versorgung aller Schmerzpatienten ist Österreich allerdings noch meilenweit entfernt“, sagt Prim. Univ.-Prof. Rudolf Likar, Leiter des Zentrums für interdisziplinäre Schmerztherapie und Palliativmedizin am Klinikum Klagenfurt. Die multimodale Schmerzbehandlung müsse alle körperlichen, psychischen und psychosozialen Faktoren identifizieren und bei der Behandlung berücksichtigen, so der ÖSG-Generalsekretär. „Wie unsere Auswertungen zeigen, gelingt das auch – und zwar deutlich effektiver als mit jeder einzelnen der bei uns kombinierten Therapieverfahren allein.“

Investitionen in diesem Bereich würden sich lohnen. Denn nicht die Optimierung der schmerzmedizinischen Versorgung kommt teuer, ins Gewicht fallen die Folgekosten einer unzureichenden Behandlung. Allein die jährlichen Kosten für Erkrankungen des Muskel- und Bewegungsapparates betragen in Österreich mehr als 5,5 Milliarden Euro und jene für Krankenstandstage bei chronischen Rückenschmerzen etwa 400 Millionen. „Die direkten Kosten infolge einer Schmerz-Chronifizierung schlagen mit 1,4 bis 1,8 Milliarden Euro zu Buche, und die indirekten Kosten bekommen wir in den Sozialsystemen präsentiert, weil etwa die Hälfte der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen frühzeitig in Pension geht“, so Likar.

ÖSG-Präsidentin Grögl: Status Quo auf allen Versorgungsebenen mangelhaft

Der Status Quo sei auf allen schmerzmedizinischen Versorgungsebenen mangelhaft, kritisiert ÖSG-Präsidentin OÄ Dr. Gabriele Grögl (KA Rudolfstiftung, Wien): Vielen Ärzten in der Primärversorgung sei es aus Zeitgründen nicht möglich, schmerzmedizinische Zusatzausbildungen zu absolvieren, eine schmerzmedizinische universitäre Basisausbildung gäbe es nicht. „Es fehlt an Netzwerken und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Allgemeinmedizinern, Fachärzten und nichtärztlichen Berufsgruppen mit der Konsequenz von oft wochenlangen Wartezeiten für die Patienten nach Überweisung zu Spezialisten“, so Grögl. „Schmerzmedizinische Leistungen scheinen kaum in den Honorarkatalogen auf und können daher nicht abgerechnet werden.“ Auf der Versorgungsebene der Schmerzambulanzen wurden in den vergangenen Jahren in Österreich mehr als zehn Ambulanzen geschlossen, meist aus Personalmangel. Österreichweit gibt es noch 48 Schmerzambulanzen, von denen nur ein kleiner Teil täglich geöffnet hat, berichtet die ÖSG-Präsidentin: „Die Folge sind monatelange Wartezeiten der Patienten auf einen Ersttermin. In nahezu allen Ambulanzen fehlen die entsprechenden Strukturen, wie es der ‚State of the art‘ Therapie entsprechen würde, um interdisziplinär und multimodal behandeln zu können.“

Und Spezielle interdisziplinären Schmerzzentren, die dritte Versorgungsebene, gibt es in Österreich – mit der Ausnahme von Klagenfurt – kaum.

Im stationären Bereich sind vor allem Patienten mit Schmerzen nach operativen Eingriffen und Verletzungen schmerzmedizinisch zu versorgen. Dr. Grögl: „Leider gibt es in den wenigsten Krankenhäusern einen Akutschmerzdienst.“

Prof. Herbert: Schmerzmedizinischer Nachholbedarf gegenüber Deutschland

Dass es auch anders geht, berichtet Univ.-Prof. Dr. Michael Herbert (Vorstand der Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin in Graz), Vorstandsmitglied der ÖSG. In Deutschland sei Schmerzmedizin seit 2012 Pflichtfach im Medizinstudium, seit 2016 Prüfungsgegenstand beim Staatsexamen. „Die flächendeckende Versorgung von Schmerzpatienten ist in Deutschland durch eine ständig steigende Zahl von Schmerzambulanzen, Schmerzzentren und Schmerzkliniken gewährleistet“, so Herbert. „Chronische Schmerzen sind als eigenständige Krankheitsbilder kodiert und Leistungen können abgerechnet werden. Es ist unverständlich, dass sich in Österreich auf dem Gebiet der Versorgungsstrukturen so wenig bewegt.“

Festgelegte Behandlungspfade und abgestufte Angebote erforderlich

Erforderlich seien festgelegte Behandlungspfade und vielschichtige, auf die jeweilige Schmerzproblematik abgestufte Angebote, so die ÖSG-Präsidentin: „In der allgemeinmedizinischen Praxis müssen die schmerztherapeutischen Zusatzqualifikationen weiter intensiviert werden, Schmerzambulanzen und stationäre Schmerzdienste in den Krankenhäusern müssen ausgebaut werden. An der Spitze dieser Pyramide sollte es in jedem Bundesland zumindest ein Zentrum mit einem mitmultimodalen Setting für die wirklich schwersten Fälle geben.“